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Von: Claudia Behrend


Artikel Nummer: 37798

Der perfekte Ton

«Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.»   Gustav Mahler (1860 – 1911), österreichischer Komponist und Dirigent


 

Wenn ich an die vergangenen Monate zurückdenke, dann war da viel mehr Stille als gewöhnlich. Im Ausgehviertel, in dem ich lebe, war es an den sonst oft sehr lauten Abenden und Nächten selbst am Wochenende so ruhig, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Zum Schlafen war das schön, aber irgendwann begann mir der Lärm sogar zu fehlen, zumindest manchmal.

 

Wonach ich mich aber am meisten sehnte, war Musik. Live gespielt und gehört. Oder selbst gesungen. Ich vermisste schöne Töne, neue Noten, warme Klänge, und solche, die zum Tanzen einladen. Auch deshalb berührte mich das erste Konzert in der Pandemie besonders. Ein 1to1-Konzert, bei dem ich mit Maske und viel Abstand in einer fremden Wohnung das Glück hatte, der Hamburger Geigerin Johanna Röhrig beim Spielen der Solosonate Nr. 3 Op. 27 «Ballade» des belgischen Komponisten Eugène Ysaÿe lauschen zu dürfen.

 

Vielleicht auch deshalb stolperte ich gedanklich, als ich las, was Keith Richards zugeschrieben wird: «Der perfekte Ton ist die Stille», soll das Rolling Stones-Gründungsmitglied gesagt haben. Gibt es den perfekten Ton überhaupt, fragte ich mich. Und wenn ja, was ist das überhaupt, der perfekte Ton? Wie klingt er? Und ist er universell? Ich recherchierte. Der berühmte Tenor Jonas Kaufmann sagte in einem Interview: «Der perfekte Ton ist derjenige, der an der richtigen Stelle genau den richtigen Ausdruck bringt.» Für mich klingt der Satz allerdings nicht so richtig musikalisch, wenn ich ehrlich bin. Nachdem ich ihn mehrfach gelesen hatte, dachte ich an Klänge, die perfekt gesetzt waren, und die mich tief berührten. Meint er das?

Aber was ist mit der Stille? Natürlich kann die schön sein, und auch Kunst, wie John Cage mit seinem berühmten Stück 4’33” beweist. Ich konnte es beim Pre-Opening der Hamburger Elbphilharmonie live geniessen. Acht Musiker und eine Sängerin stellten sich damals im grossen Konzertsaal auf und spielten dann – nicht. So steht es im Stück, und nur deshalb konnte es damals überhaupt aufgeführt werden: Bis zur offiziellen Eröffnung durfte dort schliesslich kein Ton erklingen. Still war es im Saal natürlich dennoch nicht. Still ist es eigentlich nie, und so wundert mich nicht, dass John Cage schrieb: «Man hört doch immer Töne.»

 

Auch Victor Hugo hat zur Musik etwas Kluges gesagt: «Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.» Aber trifft das auch auf die Stille zu? Dann müsste ja auch diese das ausdrücken können, was nicht gesagt werden kann, es aber nicht können.

 

Mich berühren oft die leisen Töne besonders. Genau wie sonst im Leben? «Auch das lauteste Getöse grosser Ideale darf uns nicht verwirren und nicht hindern, den einen leisen Ton zu hören, auf den alles ankommt», sagte der Physiker Werner Heisenberg.

 

Sind die stillen Töne aber auch die schönsten? Und vor allem die perfektesten? Setzt sich Musik nicht aus Klang und Pausen zusammen, und würde ohne Töne nicht auch etwas fehlen? In den Foyers und auf den Treppen durfte beim Pre-Opening schon musiziert und getanzt werden. Gut kam auch die Idee der Tänzerin, Choreographin und Opernregisseurin Sasha Waltz an, die Tänzer im Konzertsaal Hustenanfälle des künftigen Publikums simulieren zu lassen.

 

Ob dieses nun perfekte Töne erlebt im Saal, der vom Akustiker und Klang-Architekten Yasuhisa Toyota gemeinsam mit den Architekten Architekten von Herzog & de Meuron konzipiert wurde, ist unter Musikliebhabern umstritten. Toyotas Ziel jedoch war klar: Von jedem der über 2100 Plätze im grossen Saal sollte der gleiche perfekte Klang zu hören sein. Und eins ist für den perfekten Ton im Konzert auf jeden Fall sehr förderlich: Stille.     

 

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